Die Ergebnisse der Jahrestagung von UN-Konventionell e.V.
"Prüfstein hoher Hilfebedarf" lautete der Titel der Jahrestagung 2023 des Vereins UN-Konventionell e.V. Wie üblich fand sie im Inklusionshotel Hoffmanns Höfe in Frankfurt/Main statt. Ca. 50 Teilnehmer:innen aus Werkstätten und Tagesförderstätten tauschten sich über Möglichkeiten und Barrieren für eine Tätigkeit von Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf in Betrieben aus.
Eingeladen waren zwei Gastreferent:innen. Lukas Alton berichtete über die Inklusionserfolge von IFS Spagat, dem Vermittlungsdienst aus Vorarlberg. Spagat hat in 25 Jahren die Hälfte der werkstattberechtigten Personen des kleinen Bundeslandes in sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse vermittelt, unter ihnen auch Menschen, die hierzulande in Tagesförderstätten betreut würden. Die zweite Gastreferentin war Wibke Juterczenka von Leben mit Behinderung Hamburg. Der Verein organisiert mit dem Projekt Auf Achse Arbeitsmöglichkeiten für Tagesförderstätten-Beschäftigte im Sozialraum und bietet mit dem Projekt InBetrieb Tagesstättenleistungen in 1:1-Betreuung außerhalb der Einrichtung.
Um es vorweg zu nehmen, ob Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf in integrativen Arbeitszusammenhängen tätig sein können, wurde auf dieser Veranstaltung nicht grundsätzlich diskutiert. Zu eindrücklich waren die vorgestellten Beispiele, zu deutlich der Nutzen für die Beschäftigten und für die Betriebe. Diskutiert wurden lediglich Inhalte und Umfang der Tätigkeit, die Art der Begleitung und ihre Organisation.
Die Tagung begann nach einer Einführung ins Thema durch das Vorstandsmitglied Kai Westendorf mit einer Podiumsdiskussion, an der neben Lukas Alton und Wibke Juterczenka die Hamburger Gleichstellungsbeauftragte Ulrike Kloiber beteiligt war. Die Diskussionsleitung hatte Sebastian Weyhing, ebenfalls aus dem Vereinsvorstand. Lukas Alton berichtete zu Beginn von einem besonders eindrücklichen Beispiel gelungener Integration: Ein junger Mann, stark eingeschränkt und kaum sprachfähig, galt für die Spagat-Kollegen als besonders schwer vermittelbar, fand dann aber einen Arbeitsplatz in einem Asia-Imbiss, wo die Inhaberin ihn anleitete und bis heute unterstützt und wo er nun schon seit zehn Jahren tätig ist. Er hat noch einen zweiten Arbeitsplatz in einem Supermarkt.
Folgende Fragen und Antworten erbrachte die anschließende Diskussion:
• Wann handelt es sich um „hohen Hilfebedarf“?
Antwort: Bei einem Bedarf an Unterstützung, der ein überdurchschnittliches
Maß an Personalbedarf und an Zeit erfordert.
• Warum ist für die Person eine Tätigkeit in Betrieben wichtig?
Antwort: Der Arbeitsmarkt bietet vieles, was Werkstätten und Tagesstätten nicht
bieten können: Arbeit an „normalen“ Orten, wertgeschätzte Rollen,
gesellschaftliche Einbindung und erlebbare Anerkennung.
• Wird die UN-BRK schon ausreichend umgesetzt?
Antwort: Nein, vieles fehlt noch. Kostendenken verhindert den Abbau von
behindernden Barrieren, Pflege und Assistenz. Vieles muss über Präzedenzfälle
und Rechtsstreit erstritten werden. Hemmschwellen sind Personalmangel und
Versorgungsdenken (WfbM als All-Inklusiv-Einrichtung).
• Was leistet die WfbM für die Umsetzung der UN-BRK?
Antwort: Es handelt sich ohne Frage um eine Sonderwelt, aber sie ist dennoch
oft der richtige Ort für gescheiterte oder demotivierte Personen. Die meisten
Werkstätten sind offen für inklusive Wege.
• Ist eine Tätigkeit im Sozialbereich die beste Option?
Antwort: Nicht unbedingt. Es gibt zwar viele Arbeitsplätze in Altenheimen und
Kindergärten, aber die Integration in Handwerksbetrieben klappt oft besser.
• Welchen Nutzen haben Unternehmen von einer Beschäftigung?
Antwort: Die menschliche Komponente. Die Stimmung verändert sich, die
Arbeitsatmosphäre verbessert sich.
• Welchen Einfluss kann die Politik nehmen?
Antwort: Rahmenbedingungen verbessern, Unterstützung bieten
(Beispiel „Einheitliche Ansprechstellen“). Die Möglichkeit zur Einflussnahme
der Politik auf Betriebe ist aber begrenzt.
• Ist der Fachkräftemangel ein Hebel?
Antwort: Das wird häufig überschätzt. Es geht hier um stark
leistungseingeschränkte Personen, das Handicap bleibt trotz des
Lohnkostenzuschusses bestehen. Es geht weniger um Leistung als um Teilhabe.
Gefragt sind zusätzliche Plätze im Unternehmen.
• Was können die Personen selber tun?
Antwort: Motiviert sein. Probleme und Vermittlungshemmnisse lassen sich mit
angepassten Bedingungen ausgleichen. Beispiele: 20-Stunden-Woche, mehrere
Arbeitsstellen für eine Person.
• Was kann die Einrichtung machen?
Antwort: Loslegen, Mut zeigen, Sozialraum als Arbeitsort verstehen, ihr Ziel /
ihren Auftrag verändern: Es geht um mehr als nur darum, gut aufgehoben zu
sein.
• Wie inklusiv ist unser Arbeitsmarkt?
Antwort: Noch viel zu wenig. Weniger als 1% aus WfbM-Beschäftigten finden
einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz. Das kann und muss deutlich
mehr werden. Ein Ansatz wäre das Bemühen um Inklusion als erster Schritt und
erst wenn dies nicht gelingt, eine WfbM-Aufnahme
• Wie gelingt es, Beschäftigte zu motivieren?
Antworten: Neue Wege gehen, z.B. Duo Day nutzen. – Schon in der Schule die
Schüler:innen Erfahrungen im Arbeitsmarkt machen lassen – Engagement und
Sozialraum verbinden. Wichtig: Werkstätten werden weiter gebraucht.
Aussagen aus den anschließenden Arbeitsgruppen:
• Es gibt mehr Beispiele für innovative Praxis, als in den Einrichtungen bekannt ist.
• Ambulant ist die Zukunft.
• Auch Tagesförderung lässt sich ambulant (d.h. ohne Einrichtung) bereitstellen.
Beispiele: InBetrieb von Leben mit Behinderung Hamburg und die Integrierte
Arbeitsstruktur von Spagat in Vorarlberg
• Ein vergleichbarer Ansatz wird auch in Braunschweig erprobt.
• Sozialraum ist "unbelasteter Raum".
• Mehrere Arbeitsplätze für eine Person können eine gute Möglichkeit sein,
berufliche Teilhabe zu ermöglichen.
• Mentorenzuschuss wie bei Spagat (die Bezahlung der Assistenzleistung
des Betriebs) ist eine logische und sinnvolle Form der Vergütung.
• Hohen Unterstützungsbedarf kann es auch bei Menschen mit psychischer
Behinderung geben.
• Vermittlung braucht Marketing und Öffentlichkeitsarbeit.
• Integration ist dann gelungen, wenn wir nicht mehr gebraucht werden.
Die Workshops
Auf Achse, ein beispielhaftes Arbeitsangebot für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf – Wibke Juterczenka, Leben mit Behinderung Hamburg
Wibke Juterczenka stellte in diesem Workshop das Angebot Auf Achse vor, das sie mit vielen eindrücklichen Praxisbeispielen illustrierte. Unter der Bezeichnung Auf Achse organisieren die Tagesstätten des Wohn- und Beschäftigungsträgers Leben mit Behinderung Hamburg für ihre Beschäftigten seit Jahren vielfältige Arbeitsangebote im Stadtteil. Diese Angebote finden ein- bis zweimal in der Woche statt, sie nehmen eine bis drei Stunden Zeit in Anspruch. Arbeit bedeutet hier vor allem Begegnung mit dem sozialen Umfeld, an Orten des realen Arbeitslebens. Es gibt keinen Leistungsdruck, die Tätigkeiten orientieren sich an den Ressourcen der Menschen und der Tagesstätte. Aber: Sie sind wichtig, sie sind sinnvoll, sie sind leistbar und sie werden honoriert. Auch die berufliche Bildung ist in die Abläufe integriert.
Im zweiten Teil erarbeitete Wibke Juterczenka mit den Teilnehmer:innen Anknüpfungspunkte zur Übertragung dieses Konzepts in das lokale Umfeld ihrer Einrichtung.
Herausforderungen und Lösungsansätze bei der Vermittlung von Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf – Anne Reichert, Iserlohner Werkstätten, und Kai Westendorf, ISA Hamburg
Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf in Betriebe des ersten Arbeitsmarkts zu vermitteln, stellt Werkstätten vor besondere Herausforderungen: Welche Tätigkeiten eignen sich für diesen Personenkreis? Wie soll der zeitliche Umfang der Tätigkeit sein und wie deckt man ggf. zusätzliche Betreuungszeiten ab? Wie bekommt man den Betrieb und die künftigen Kolleg:innen mit ins Boot? Welche Informationen benötigen sie? Wie sichert man eine ausreichende und dauerhafte Unterstützung am Arbeitsplatz? Wie nutzt man die Ressourcen des Sozialraums? Wie sichert man die Erreichbarkeit des Betriebs bzw. wie lässt sich das Beförderungsproblem lösen?
In diesem arbeitsintensiven Workshop erarbeiten die Teilnehmer:innen mit der Kreativtechnik der Walt-Disney-Methode konzeptionelle Ideen, um erste Schritte
in ein neues Angebot zu machen.
Die Vermittlung von Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf durch ifs Spagat in Vorarlberg – Lukas Alton, ifs Spagat, Vorarlberg
Aus einer Elterninitiative entstand in Österreichs westlichstem Bundesland Vorarlberg 2001 der Integrationsfachdienst „ifs Spagat“. Er bringt Menschen mit verhältnismäßig schweren Beeinträchtigungen in sozialversicherungspflichtige und tariflich entlohnte Beschäftigungen am allgemeinen Arbeitsmarkt. Mittlerweile geht über die Hälfte der Schulabgänger mit erhöhtem Förderbedarf in Vorarlberg nicht mehr in eine Werkstatt, sondern schlägt den „integrativen Weg“ auf den allgemeinen Arbeitsmarkt ein. Das Spagat-Team hat die gängigen Instrumente für eine Vermittlung um etliche Aspekte erweitert: Frühe Kontaktaufnahme schon in der Schule, persönliche Zukunftsplanung, Unterstützerkreise, Schnupperpraktika, Unterstützung der Beschäftigten sowohl durch Jobcoachs als auch durch Betriebskollegen, deren Einsatz als „Mentoren“ honoriert wird, oder die Möglichkeit, die Wochenarbeitszeit auf Tätigkeiten bei unterschiedlichen Arbeitgebern aufzuteilen. Mit diesen Erfolgsfaktoren wurde in Vorarlberg auch eine Festanstellung von Menschen mit schweren Behinderungen möglich.
Integrationsberater Lukas Alton berichtete in diesem Workshop von seiner Arbeit speziell mit Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf und erprobte im zweiten Teil mit den Teilnehmer:innen das zentrale Erfolgsinstrument des Unterstützerkreises.
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